Wenn menschliches Dasein in der Gesellschaft prinzipiell geschichtlich verfasst ist (B I 3), dann ergeben sich daraus didaktisch relevante Folgerungen, die kurz genannt seien:

Erstens: Die Handlungsprobleme menschlichen Zusammenlebens müssen bewältigt werden in der Spannung zwischen Dauer und Wandel, zwischen einer Überlieferung, die Geltung beansprucht, und Fortschritt, der aus Veränderungswillen entspringt. Überlieferung und Fortschritt bilden keinen reinen Gegensatz, sondern stehen in einem dialektischen Verhältnis. Fortschritt hat die menschliche Gesellschaft nur, weil sie Tradition bildet. Es wäre daher falsch, Geschichtsunterricht und politische Bildung prinzipiell aus konservativer oder aus progressiver Grundhaltung zu konzipieren. Nur erkannte Geschichte macht frei zu Aneignung oder Kritik des Überlieferten. Historisch-politische Bildung soll deshalb Traditionen weder tabuisieren und naiv pflegen, noch sie progressistisch verwerfen, sondern zum Gegenstand des Nachdenkens machen.

Zweitens: Geschichtlichkeit bedeutet Offenheit und Unvollendbarkeit der Geschichte. Wir kennen nicht die Geschichte als ganze und können sie nicht von einem idealen Endzustand her begreifen. Geschichte ist keine Einbahnstrasse des Fortschritts, auf der von einem idealen Ende her Antworten auf unsere heutigen Probleme zu finden und die Opfer der Vergangenheit und Gegenwart zu rechtfertigen wären. Gegenwartsprobleme können nur durch partielle Verbesserungen gelöst werden, die ihren Preis haben. Geschichtsphilosophische Totalbilder, so unentbehrlich sie als Denkhorizonte sein mögen, dürfen nicht verabsolutiert und nicht als Ergebnisse der Geschichtswissenschaft dargestellt werden. Der Geschichtsunterricht kann sie bewusst machen und zugleich relativieren, indem er mehrere vergleichend nebeneinander betrachtet. Wenn dagegen Geschichte über den Leisten angeblich erkannter Gesetzmäßigkeiten geschlagen wird, dann wird das konkrete Einzelne missdeutet und missachtet, dann werden Menschen und Gruppen in prinzipielle Freund-Feind-Schablonen gepresst. "Wer die Menschheit der Zukunft als Partei in der Gegenwart reprä[/S.:222]sentiert, hat damit eo ipso alle anderen Parteien in die Partikularität verwiesen, so dass sie als Instanzen der Kritik rechtlos werden" (Lübbe bei Oelmüller 1977, 312). Offenes Geschichtsbild und offene Gesellschaft, historischer und politischer "Relativismus" bedingen einander. Allerdings bedeutet dieser Relativismus nicht normative Beliebigkeit (B I 1/2).

Drittens: Relativismus heißt nicht Flucht in die angeblich reinen Fakten, heißt nicht Absage an Norm- und Wertvorstellungen, heißt nicht Ausweichen vor den Sinnfragen. Im Gegenteil verweist die hier vorgenommene Auslegung von Geschichtlichkeit auf die Verantwortung der jeweils Lebenden und Handelnden für den Gang der menschlichen Dinge. In der Offenheit der jeweiligen geschichtlich-politischen Situation müssen die Menschen Antworten finden auf konkrete Herausforderungen nach Maßgabe sittlicher Prinzipien, deren Geltung sie in ihrem Gewissen vernehmen und in Kommunikation miteinander ergründen.

Viertens: Geschichtlichkeit des Menschen in der Gesellschaft bedeutet auch, Macht und Verantwortlichkeit des Individuums und der heute Lebenden insgesamt nicht idealistisch zu überzeichnen. Das Gewordene, die sozialen Strukturen, die überlieferten Normen und Institutionen, die "Verhältnisse" erfährt der einzelne Mensch zutreffend zunächst einmal als übermächtig. Die in didaktischer Literatur in den siebziger Jahren ständig zitierte Formel "historisch geworden, also veränderbar" ist irreführend. Geschehenes und Gewordenes können wir nicht rückgängig machen. Dem Geschehenen gegenüber können wir uns nur bemühen, in Freiheit unser Verhältnis zu ihm zu bestimmen. Dies ist der reale Kern der sogenannten Bewältigung der Vergangenheit. Das Gewordene, das institutionelle Gefüge und die Strukturen einer Gesellschaft sind von "langer Dauer", sie entziehen sich daher kurzfristigem Veränderungswillen. Übrigens zeigen die im Gefolge raschen sozialen Wandels der letzten Jahrzehnte zu beobachtenden Phänomene wie Daseinsunsicherheit und Mangel an Sinnorientierung, daß Mensch und Gesellschaft auf eine gewisse relative Stabilität ihrer Normen, Institutionen und Strukturen angewiesen sind. Das meiste an sozialem Wandel geschieht wahrscheinlich unmerklich und ungewollt, und gerade deshalb gilt, dass man gezielt verändern soll nur, was man verbessern kann.