Geschichtliches und politisches Bewusstsein bilden unabhängig vom Grad ihrer Reflexion einen unauflösbaren dialektischen Zusammenhang. Das Bewusstsein von politischen Problemen und der Wille zu politischer Gestaltung sind geschichtlich bedingt, und ihre ungewisse Zukunftsperspektive begründet ein Bedürfnis, sich der Gegenwart aus der Vergangenheit zu vergewissern. Daher wird Geschichte häufig zu einem Arsenal für Legitimation und Identifikation im politischen Handeln sozialer Gruppen. Das Selbstverständnis von Individuen und Gruppen hat eine geschichtliche Dimension, schließt mindestens rudimentär ein Bewusstsein von Vergangenheit und Einstellungen zur Vergangenheit ein. Die Menschen leben mit Geschichtsbildern, sie suchen ihre Identität in Auseinandersetzung mit Vergangenem, das sie als wirksam erfahren. Daher ist im Mit- und Gegeneinander der sozialen und politischen Gruppierungen immer auch Geschichte wirksam anwesend, wird zur Sprache gebracht und gedeutet. "Ein historisch-politisches Standortwissen ist gleichsam ,sprungbereit' von seiner Deutung der Geschichte und der gegenwärtigen Situation auf die Zukunft gerichtet" (Bergsträßer 1963, 14).

Geschichte ist daher, wie schon Augustinus in seiner berühmten Analyse der menschlichen Erinnerung darlegte, nicht die in sich stehende Vergangenheit, sondern die Gegenwart der Vergangenheit in der Erinnerung. Geschichte ist also einerseits niemals ohne Gegenwartsbezug, ein Geschichtsbild wird von den Erfahrungen der Gegenwart her strukturiert; andererseits beeinflusst die erinnerte Vergangenheit die Wahrnehmung der Gegen[/S.:223]wart und den Zukunftswillen (Keßler bei Schörken 1981, 26 ff.). Jörn Rüsen fasst Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsperspektive überzeugend in folgender Definition von Geschichte zusammen: "Geschichte ist derjenige Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart, den handelnde Individuen und Gruppen reflektieren müssen, wenn sie ihr Handeln sinnhaft in einer Zukunftsperspektive orientieren wollen" (Rüsen bei Kosthorst 1977, 48). Für Geschichtswissenschaft wie für Geschichtsunterricht bedeutet dies, dass sie, wie immer man im einzelnen ihre Funktionen bestimmt, unabdingbar in einem Gegenwartsbezug stehen.

Geschichtswissenschaft ist in ihrem Zugriff auf ihren Gegenstand, in ihrem Erkenntnisinteresse, in ihren Fragestellungen und in ihrer Problemwahl vom herrschenden Geschichtsbewusstsein und damit auch von der Gegenwart bestimmt. Ihre Objektivität besteht nicht darin, dass sie Vergangenheit gleichsam photographisch abbildet. Vielmehr macht sie Geschichte im definierten Sinn unter bestimmten theoretischen Prämissen zum Gegenstand von Fragen, untersucht sie nach intersubjektiv anerkannten Regeln und stellt ihre Antworten fachlich und öffentlich zur Diskussion. Der öffentliche Bezug war großer Geschichtsschreibung immer wesentlich. Kein wirklicher Historiker schreibt nur für den kleinen Kreis von Zunftgenossen. Geschichtsschreibung bezieht sich auf öffentliches Geschichtsbewusstsein, hat insofern also auch eine didaktische Komponente. Dies ist in der heutigen "Historik" allgemein anerkannt, freilich wird der Gegenwartsbezug der Geschichtswissenschaft von den Forschern und einzelnen Forschungsrichtungen unterschiedlich gewichtet und ausgelegt.

Leider sind die Neuansätze geschichtswissenschaftlicher Selbstbesinnung, die in der Nachkriegszeit zu beobachten waren, in der didaktischen Diskussion zunächst relativ unbeachtet geblieben. Eine gesellschaftskritische Geschichtsdidaktik der siebziger Jahre konnte daher so tun, als pflege die deutsche Geschichtswissenschaft fern von den Fragen unserer Zeit einen "objektivistischen Irrtum" in ihrem Elfenbeinturm. Dagegen ist die gesellschaftlich-politische Relevanz der Geschichtswissenschaft, ihr lebensweltlicher Ursprung lange vor dem Streit um Richtlinien für Gesellschaftslehre und Politikunterricht gründlich erörtert worden. Die Beiträge hierzu von Heimpel und Wittram stammen aus den fünfziger Jahren, Walther Hofers Studien zum modernen Geschichtsdenken ebenfalls. 1961 erschien das "Fischer-Lexikon Geschichte", welches die von Hans Rothfels und seinen Schülern geleistete Rückbesinnung auf die politischen Implikationen der Geschichtswissenschaft darstellte. Diese Neuansätze erbrachten damals zweierlei: Erstens klärten sie im Zuge einer Revision deutscher Geschichtsbilder den in Deutschland bis zum Nationalsozialismus greifbaren Zusammenhang von Historismus und nationalkonservativer Weltanschauung. Zweitens gewannen sie dem unvermeidlichen Ineinander von Geschichtsdenken und Gegenwartsbewusstsein positive Züge ab durch die Entwicklung einer modernen Kritik der historischen Vernunft, jenseits von Objektivismus und Irrationalismus.

Während in diesen Ansätzen eine Balance versucht wurde zwischen dem Gegenwartsbezug historischen Forschens und seiner Verpflichtung, der untersuchten Vergangenheit gerecht zu werden, dominiert bei manchen heutigen, insbesondere jüngeren und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Historikern das gegenwärtige Erkenntnisinteresse so sehr, dass sie ihre Wissenschaft unter das Ziel stellen, einen unmittelbaren und handlungsorientierten Sinnzusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu konstruieren (Rohlfes bei Schörken 1981, 63 ff.). Was sich daraus an Gefahren für die Wissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaft ergibt, mag in der fachwissenschaftlichen Diskussion erörtert werden. Für unseren Zusammenhang ist der auch von Rohlfes ins Feld geführte nachdrückliche Hinweis nötig, dass die Gegenwart selbst keine einheitliche Größe ist und also schon deshalb keine altgemeingültigen Sinnlinien zwischen Vergangenheit und Gegenwart konstruiert werden können. Es gibt die unterschiedlichen weltanschaulichen und politischen Lager, die sozialen Gruppierungen und Interessen, die zwischen Indivi[/S.:224]duen und Generationen divergierenden Lebenserfahrungen und Wertüberzeugungen. Wenn Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht etwas zur Klärung der Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart beitragen wollen, dürfen sie an dieser Pluralität nicht vorbeigehen.