Joachim Rohlfes zitiert in unserem Zusammenhang das bekannte Wort von Jacob Burckhardt, Geschichte solle nicht klug machen für ein andermal, sondern weise für immer. Dieser der klassisch-humanistischen Bildungsvorstellung verpflichtete Gedanke repräsentiert den Versuch, die Beschäftigung mit Geschichte aus einer allzu engen pädagogisch-politischen Zwecksetzung zu befreien. Bei aller Skepsis gegenüber der Tragfähigkeit dieser Bildungsvorstellung muss man bedauern, dass die Geschichte des Geschichtsunterrichts anders aussieht. Die Indienstnahme dieses Schulfaches durch die Herrschenden ist nicht erst ein Phänomen des Nationalsozialismus, sondern lässt sich bis weit ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Übrigens kann angesichts dieser Fachgeschichte die geschichtsdidaktische Ratlosigkeit der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht überraschen. Das Fach hatte seinen bis dahin herrschenden politischen Orientierungsrahmen verloren (Bergmann/Schneider 1982).

Geschichtsunterricht in den öffentlichen Schulen einer demokratisch verfassten pluralistischen Gesellschaft ist an die Bedingungen der Pluralität geknüpft, ist auf wissenschaftliche Rationalität und auf die allgemein anerkannten Wertgrundlagen der gemeinsamen Verfassung verpflichtet. Gerade deshalb darf er nicht unter partikularen politischen Zwecksetzungen stehen, vielmehr muss seine politische Aufgabe konsensfähig formuliert werden. Im Hinblick auf den dargestellten Zusammenhang geschichtlich-politischen Bewusstseins kann man die Aufgabe des Geschichtsunterrichts definieren als historische Aufklärung. Aber Aufklärung und Rationalität machen nicht halt beim Infragestellen und Reflektieren. Wie immer der einzelne Historiker sein Fach versteht und betreibt, in der Schule müssen Aufklärung und Rationalität den anthropologisch grundlegenden Tatbestand umschließen, dass der Mensch ein sinnsuchendes und wertorientiertes Wesen ist und folglich mit bloßer Kritik nicht leben kann. Halbe Aufklärung heißt Auflösung von Traditionen und Identifikationen, ganze Aufklärung erweist Urteilsbildung, wertende Stellungnahme und Identifikation mit Sinnhaftem als human und sozial notwendig. Auch wenn wir die Möglichkeiten der Schule in unserer Gesellschaft nicht überschätzen wollen, kann sie dazu doch einiges beitragen.

Der Geschichtsunterricht kann den Schülern ihre eigene geschichtlich bedingte und vielleicht bisher unreflektiert gelebte Identität bewusst machen durch das Aufzeigen unterschiedlicher Orientierungen von Individuen und Gruppen an ihrer spezifischen Geschichte. Dies ist in einer pluralen Gesellschaft unumgänglich, es erleichtert das Zusammenleben und das gegenseitige Verständnis der Gruppen und ist gerade in Deutschland angesichts der pluralistischen Züge unserer Geschichte besonders notwendig. Die Pluralität unserer Identitäten darf nicht durch eine Einheitsideologie einer Großgruppe, auch nicht durch die einer Nation verdeckt werden (B II Exkurs I). Ferner kann der Geschichtsunterricht das Phänomen der Legitimation gegenwärtiger Verhältnisse aus geschichtlicher Erinnerung aufzeigen und dadurch kritisch machen, vielleicht sogar schützen gegen die Gefahr der Kurzschlüssigkeit und Ideologisierung. Zwar ist die öffentliche Pflege geschichtlicher Erinnerung nicht nur legitim, sondern auch in einer demokratisch verfassten Gesellschaft notwendig, die sich an der Vergewisserung ihrer Ursprünge nicht hindern lassen sollte angesichts der Perversion von Tradition durch Diktaturen. In der Bundesrepublik Deutschland haben wir einen eklatanten Mangel an öffentlicher Traditionspflege. Aber nach den Maßstäben von Humanität, Rationalität und Demokratie ist sie nur legitim als [/S.:225] Ausdruck der Bereitschaft, das Bestehende auch messen zu lassen an dem im Ursprung positiv gemeinten Sinn einer freien Ordnung. Deshalb löst kritisch-rationaler Unterricht auf der Basis dieser Maßstäbe positive geschichtliche Legitimation und Identität nicht auf, sondern reinigt sie, gibt ihr eine rational tragfähige Grundlage.

Hermann Giesecke bezeichnet die historische Selbstvergewisserung der demokratischen Gesellschaft als eine Aufgabe des Unterrichts und grenzt die dabei zu zeichnende "politische Biographie" dieser Gesellschaft gegen ein geschlossenes und verbindliches Geschichtsbild ab (Giesecke 1974, 58 ff.). Dem kann ich voll zustimmen, sehe jedoch in den Diskussionen der siebziger Jahre Anlass hinzuzufügen, dass in der Rückfrage heutiger Demokratie nach ihren Ursprüngen die Offenheit des Demokratiekonzepts und der Geschichtsdeutung einander entsprechen müssen. Es darf nicht eine partikulare Richtung die Traditionen des demokratischen Verfassungsstaates für sich allein in Anspruch nehmen, etwa um ihr Programm als die allein legitime Einlösung demokratischer Verheißungen zu verabsolutieren. Kritischer Geschichtsunterricht verträgt sich mit keiner Art von Einbahn- und Endpunkt-Denken, ganz gleich ob es sich "national" oder "sozialistisch" oder "emanzipatorisch" vorführt. Solches Denken wird der Ambivalenz und der Kontingenz des Geschichtlichen und der Offenheit der Zukunft nicht gerecht.

Schließlich kann Geschichtsunterricht die Identitätsfindung von Individuen, von Gruppen und Gesamtgesellschaft zwar nicht selbst und unmittelbar leisten, aber Möglichkeiten dazu anbahnen, indem er das Verhältnis von Zustimmung und Kritik prinzipiell offenhält, sich dabei jedoch nicht in angebliche Wertneutralität flüchtet, sondern die Sinn- und Wertfragen an den konkreten historisch-politischen Gegenständen offen zur Sprache bringt. Identitätsfindung steht dann nicht im Gegensatz zu Kritik, sie ist freilich nicht eine neben anderen stehende und in gleicher Weise erfüllbare Funktion des Unterrichts, sondern nur eine Möglichkeit jenseits der unmittelbaren Ziele. Was Wissenschaft und Schule in einer pluralistischen Gesellschaft leisten können, ist Humanisierung durch Rationalisierung, Ordnung der Vorstellungswelt in dialogischer Auseinandersetzung. Gelebte Identitäten müssen durch diesen Prozess hindurch wie durch eine Feuerprobe und erweisen sich nur so als tragfähig in einem kontrollierten Selbstverständnis der Individuen und Gruppen wie auch für das friedlich-freiheitliche Zusammenleben in den inner- und zwischenstaatlichen Konfliktfeldern.